Berlin. Ein Spaziergang durch Kreuzberg. Die Gegend ist vielen ein Begriff aus Erzählungen, Liedern und Geschichten von Freund*innen, die hier lange Nächte verbracht haben. Es ist der wohl hippste Bezirk Berlins, in dem Menschen mit unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Hintergründen aufeinandertreffen. Ein lautes, buntes und dynamisches Durcheinander prägt den Stadtteil.
Das Schlendern durch die Straßen ist aufregend. Sucht man hier aber nach einer dauerhaften Bleibe, stößt man auf unangenehme Tatsachen. Die Mietpreise steigen rapide an und erschweren vielen Menschen das Wohnen in der Metropole. Und dabei hatte Berlin bis vor wenigen Jahren noch den Ruf einer günstigen, lebenswerten Großstadt. Nun schießen die Preise immer weiter in die Höhe, denn der Erwerb von Wohnraum in Berlin ist zum lukrativen Geschäft geworden. Viele Wohnungen werden von Großinvestor*innen erworben, renoviert und teurer weiterverkauft. Dazwischen stehen sie oft lange Zeit leer. Die Gentrifizierung ist also voll im Gange.
Wohnungsnot ist jedoch kein gänzlich neues Thema in der Stadt. Bereits Ende der 70er Jahre forderten viele Studierende und Arbeitslose „Wohnraum für Alle!“ und besetzten leerstehende Häuser im damaligen West-Berlin. Die Gründe und Umstände der Wohnungsknappheit haben sich verändert, doch die Forderung bleibt aktuell. Noch heute findet man deshalb zahlreiche Hausbesetzungen in der Stadt.
Plötzlich raus – was nun?

Doch was, wenn Häuser und Wohnungen noch bewohnt werden, die Mieter*innen aber ganz plötzlich ausziehen müssen? Dies komme oft vor und viele Menschen seien dann erst einmal überfordert und fühlen sich allein, meint Anna Rippl von Bizim Kiez, einem Verein, der sich für solidarische Nachbarschaft und gegen Mietverdrängung stark macht. Die wohl wichtigste Tätigkeit sei die Öffentlichkeitsarbeit, um die Menschen zu erreichen und sie darin zu bestärken, sich zur Wehr zu setzen. Denn die meisten wissen nichts über ihre Rechte und die Möglichkeiten Widerstand zu leisten. Bizim Kiez hilft ihnen dabei, geht für sie auf die Straße, stellt Kontakt zu Verwaltung und Politik her und informiert über rechtliche Schritte.
Angefangen hat der Verein 2015 als kleine Nachbarschaftsinitiative in Kreuzberg. Ein beliebter Gemüseladen sollte die gemieteten Räumlichkeiten verlassen. Da dies nicht der erste solcher Vorfälle war, schloss sich eine kleine Gruppe zusammen und protestierte wöchentlich gegen die Kündigung. Zu Beginn lag der Hauptfokus auf den wöchentlichen Straßenversammlungen, immer mit einem offenen Mikrofon ausgestattet. Das Konzept hatte Erfolg, der Gemüseladen konnte bleiben. Mittlerweile sei der Verein angewachsen und viel breiter aufgestellt, sagt Rippl, und erreicht Menschen auf so vielen Kanälen wie möglich. Dies gehe vom Presseverteiler über die eigene Website, Facebook und Twitter bis hin zu Plakaten. Bizim Kiez ist mittlerweile eine von vielen Nachbarschaftsinitiativen in Berlin, die sich vernetzen, gemeinsame Events abhalten und demonstrieren.
Mit kreativem Aktionismus gegen Gentrifizierung
Neben der Arbeit von Vereinen ist es vor allem Kunst in Berlins Straßen, die sich gegen die steigenden Mietpreise richtet. An unzählbaren Häuserwänden finden sich Graffitis, bunt und gut erkennbar für alle. Hebt man den Blick noch etwas, sieht man Leinwände mit Schriftzügen, wie „Verdrängung stoppen“, von so manchem Balkon hängen. Im Vergleich zu anderen Städten scheint das Thema Mietverdrängung – zumindest in Kreuzberg – omnipräsent zu sein. Die Mieten lagen hier noch vor ein paar Jahren bei knapp über 6€/m². Mittlerweile haben sie sich mehr als verdoppelt. Um diesen Anstieg zu veranschaulichen, hebelte das Künstlerkollektiv Rocco und seine Brüder Pflastersteine aus dem Gehsteig und errichtete darunter ein symbolisches Grab. Auf dem Grabstein war der betrauerte Quadratmeterpreis zu lesen: „6,20 € / m²“.
Mit dem Steigen der Mieten rutschen viele Einwohner*innen in die Obdachlosigkeit. Wer in Berlin mit der U-Bahn fährt, kommt nicht umher, dies zu bemerken. Die Gruppe „Reflektor Neukölln“ will auf diesen Zustand aufmerksam machen. Seit ein paar Monaten liegen nun immer wieder weiße Menschenpuppen auf den Straßen Berlins. Die dargestellten obdachlosen Menschen sehen täuschend echt aus – überdeckt mit weißer Farbe gleichen sie erstarrten Leichen. Die Anwohner*innen waren zuerst geschockt, bis sich das Ganze als Kunstprojekt mit dem Titel „Die Verdrängten“ entpuppte und sehr positiv aufgenommen wurde. Jede Puppe trägt einen Namen und eine Verdrängungsgeschichte vom Eigenheim hinaus auf die Straße. Projekte wie diese überraschen und schockieren. Genau das soll das Bewusstsein für das Problem der Gentrifizierung in Berlin erhöhen und hilft den Betroffenen mehr Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen. Damit steigt schließlich auch der Druck auf die Politik und die Hausbesitzer*innen.
Der Kampf gegen ungreifbare Gegner*innen

Viele Großinvestor*innen und Eigentümer*innen
sitzen in anderen Ländern und verwalten von dort ihre Immobilien. Da stellt
sich die Frage, ob der Einsatz der Bürger*innen überhaupt Erfolge zeigt, wenn
die Bekämpften nicht vor Ort sind. Es sei zwar oft zermürbend, gegen so
ungreifbare Gegner*innen zu kämpfen, meint Rippl, doch sie sei von der
Sinnhaftigkeit von Bürger*inneninitiativen überzeugt. Dabei verweist sie auf
etliche Erfolge, die Bizim Kiez und
andere Vereine bereits feiern konnten.
Prototypisch dafür steht die Causa „Google Campus“. Google kündigte 2016 an,
einen Startup-Campus in einem ehemaligen Umspannwerk in Kreuzberg errichten zu
wollen. Die Anwohner*innen stellten sich jedoch quer, denn die Präsenz des
Großkonzerns würde die Mietpreise noch weiter in die Höhe treiben. Deshalb waren
die umliegenden Straßen alsbald mit unzähligen Plakaten, Postern und
demonstrierenden Anwohner*innen gefüllt. Sogar eine kurze Besetzung des
Geländes fand statt. Die Kreuzberger*innen haben klar und deutlich gezeigt,
dass sie Google nicht in ihrer Mitte wollen. Und das mit Erfolg. Im Herbst 2018
verwarf das Unternehmen die ursprünglichen Pläne und das Umspannwerk fungiert
nun als Zentrum für soziales Engagement. Google bleibt zwar weiterhin Mieter, tritt
die Flächen aber dauerhaft ab. Das Abziehen des Internetkonzerns wurde in
Berlin sehr gespalten aufgenommen. Doch egal wie man zu Googles Rückzug steht,
der Fall zeigt ganz klar, dass der aktive und kreative Einsatz von Anwohner*innen
Wirkung zeigt – auch bei großen und scheinbar unantastbaren Gegner*innen.
Aaron P.
Dieser Artikel erschien im Frühjahr 2019 in der Printausgabe 10 der Gschichtldruckerei mit dem Titel „Wohn(t)raum? Wohl kaum“. Dort kannst du auch viele weitere Texte zum Thema Wohnen lesen. Wenn du eine Printausgabe haben möchtest, dann schreib uns!